Zweite geschichtsphilosophische These von Walter Benjamin (1892 - 1940 [Selbstmord auf der Flucht vor NS-Schergen])

„Zu den bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des menschlichen Gemüts“ sagt Lotze, „gehört neben so vieler Selbstsucht im einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft.“
Die Reflexion führt darauf, dass das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vor­stellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum.

Maurice Halbwachs (1877-1945), Soziologe, Philosoph und international arbeitender Professor, wurde im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Der hier gezeigte Textauszug aus Studien der Gedächtnisforschung datiert aus dem Jahre 1925.

[...] Nehmen wir an, die Vergangenheit erhielte sich ohne Veränderung und lückenlos in unserem Gedächtnis, d. h. es sei uns jederzeit möglich, jedes beliebige Ereignis unseres Lebens neu zu beleben. Nur bestimmte dieser Gedächtnisinhalte würden während des Wachseins erscheinen; da wir uns in dem Augenblick, wo wir sie uns in die Erinnerung zurückrufen, in Berührung mit den Realitäten der Gegenwart befinden, könnten wir gar nicht anders als in ihnen Elemente unserer Vergangenheit zu erkennen. Nehmen wir nun aber an, dass die Erinnerungen während des Traumes, wenn dieser Kontakt unterbrochen ist, in unser Bewusstsein treten: wie sollten wir sie dann als Erinnerung wiedererkennen? Es gibt keine Gegenwart mehr, der wir sie gegenüberstellen könnten; da sie ja die Vergangenheit nicht in der Weise vorstellen, wie man sie aus der Entfernung sieht, sondern so, wie sie ablief, als sie Gegenwart war, so haben sie nichts an sich, was offenbart, dass sie sich uns nicht zum erstenmal zeigen. - So steht theoretisch dem nichts entgegen, dass die Erinnerungen im Schlaf auf uns eine Art halluzinatorische Wirkung ausüben, ohne dass sie sich maskieren müssten, um nicht erkannt zu werden. [...]

Nach Prof. Dr. Klaus Koch, einem humorvollen und ganz fantastisch lehrenden Alttestamentler. Klassiker von Koch sind seine Bücher über die israelitische Profetie.

Nach hebräischer Auffassung besteht ein unlöslicher Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen bei jedem Menschen.
Die Taten des Menschen resultieren in einer unsichtbaren Hülle (awon), die den Menschen umgibt und je nach der sittlichen Bestimmtheit der Taten positiv oder negativ geladen ist. Diese schicksalswirkende Tatsfäre betrifft nicht nur das eigene Leben, sondern wirkt sich auch ansteckend auf die gesellschaftliche und natürliche Umwelt aus; nach altisraelitischer Überzeugung hängen moralische und natürliche Weltordnung unverbrüchlich zusammen.
In diesem Zusammenhang ist eine Betrachtung des Begriffspaares „sedaqa“ und „mischpat“ erhellend; beide sind heilsame Faktoren im Volksleben.
Sedaqa ist zu praktizieren und aufzurichten, es beinhaltet gemeinschaftsgemäßes Verhalten, das auf den Bestand der für gelungenes Leben konstitutiven Institutionen wie Familie oder Königtum ausgerichtet ist. Die Übersetzung von sedaqa mit „Gerechtigkeit“ ist durchweg unangemessen und hat zudem zur modernen Auffassung vom gerechten und gnadenlosen Jahwä geführt.
Nach hebräischer Auffassung bedarf es jedoch einer bestimmten gesellschaftlichen Atmosfäre, um Moral und gesellschaftsförderndes Verhalten überhaupt erst zu ermöglichen.
Ohne mythologisch-metaphysischen Hintergrund gibt es keinen hinlänglich vernünftigen Grund zur Achtung von Sitte, Recht und Menschenwürde, sondern nur rücksichtslose Durchsetzung eigennütziger Interessen.

Die Anschauung der Tatsfäre erinnert an die indische Karmalehre, allerdings vollendet sich der von den Profeten der Königszeit hervorgesehene Tun-Ergehen-Zusammenhang diesseitig, in diesem Leben.
Mischpat ist ein Begriff, der zwischen Zustand und Aktion schillert, er bedeutet einerseits die unangefochtene wirtschaftliche wie rechtliche Existenz von Individuen und Gruppen, andererseits aber administrative, juristische, selbst kriegerische Mittel und Handlungsweisen zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung einer solchen Existenz. Zur stillschweigenden Voraussetzung hebräischen Denkens gehört, dass mischpat nie bleibend vorhanden ist, sondern fortlaufend „gemacht“ werden muss.
Der Mensch ist nach hebräischer Auffassung nicht von sich aus, bzw. nicht von Natur aus in der Lage, echte Gemeinschaftstreue zu verwirklichen, vielmehr bedarf es dafür religiöser und ökonomischer Voraussetzungen. Um angstfrei zu handeln, bedarf es eines gesicherten Standortes, der Ausrichtung an einer Größe, auf die Verlass ist. Das beginnt mit Wasser und Brot ... Zur Suche nach Verlass ist Erkenntnis vonnöten.

Qoh. 3,1-8

Für alles gibt es eine Stunde,
und eine Zeit hat jedes Vorhaben unter dem Himmel:
Zeit des Gebärens und Zeit des Sterbens,
Zeit des Pflanzens und Zeit des Ausraufens von Gepflanztem,
Zeit des Tötens und Zeit des Heilens,
Zeit des Niederreißens und Zeit des Aufbauens,
Zeit des Weinens und Zeit des Lachens,
Zeit des Klagens und Zeit des Tanzens,
Zeit des Steinewerfens und Zeit des Steinesammelns,
Zeit des Umarmens und Zeit des Ferneseins vom Umarmen,
Zeit des Suchens und Zeit des Verlierens,
Zeit des Aufbewahrens und Zeit des Fortwerfens,
Zeit des Zerreißens und Zeit des Nähens,
Zeit des Schweigens und Zeit des Redens,
Zeit des Liebens und Zeit des Hassens,
Zeit des Krieges und Zeit des Friedens.

Gerhard von Rad (1901-1971) schreibt über die Weisheit in Israel. Mit dem im Folgenden wiedergegebenen Zitat möchte ich die Bücher Gerhard von Rads sehr empfehlen, der in sehr ansprechender Art über Themen des Alten Testaments zu schreiben wusste.

Man kann immer nur eines von beidem tun, und um zu wissen, was denn nun jeweils zu tun ist, dazu muss man eben wissen, dass alles seine Zeit hat. [...] Es handelt sich um die ganz elementare Erfahrung, die dem Menschen aller Zeiten und Kulturstufen zugänglich war, nämlich um die Erfahrung, dass menschliches Tun nicht zu allen Zeiten gleichermaßen erfolgreich und sinnvoll ist, dass sein Erfolg und seine Sinnhaftigkeit, dass einfach alle Ermächtigung zu erfolgreichem Handeln an gewisse Zeiten gebunden ist. Es handelt sich also wieder einmal zunächst um die Erfahrung von einer Grenze, die dem Lebenswillen gezogen ist. Es bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als sich dieser Tatsache zu beugen, denn sie ist jedem Einfluss weit entzogen. Bleibt ihm nichts anderes übrig, als diese Grenze als einen gegebene Tatsache anzuerkennen, so ist es ihm doch unbenommen, über sie nachzudenken, ja noch mehr: er kann versuchen, ihr sogar einen Nutzen abzugewinnen und in ihr eine Art von geheimnisvoller Ordnung zu erkennen. Auf alle Fälle bestätigte diese Erfahrung die Erkenntnis, [...] dass sich nämlich in den Erfahrungen der den Menschen umgebenden Umwelt nichts feststellen ließ, was von absoluter Gültigkeit war. Immer zeigte sich das jeweils Erfahrene auf irgendeine Weise bedingt und relativ. Hier nun handelt es sich um die rätselvolle Abhängigkeit alles Geschehens von der fallenden Zeit. [...] Dies gilt vor allem für das menschliche Wort, das bekanntlich von den Weisheitslehrern an die Spitze aller lebensgestaltenden Faktoren gestellt wurde. [...]

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