Der Unterschied zwischen Harmonie und Akkord

Während dem Begriff „Akkord“ mehr der Beigeschmack von etwas Solidem, Statischem, Greif- und Messbarem anhaftet, schließt der Begriff „Harmonie“ den Aspekt des Flüssigen, Unkörperlichen, Nichtmessbaren in sich. […] Wenn wir die Harmonik in solch starre Objektivität zu zwingen versuchen, entzieht sie sich diesem Zwang durch hundert Schlupflöcher.

[Bedeutsam ist der Einfluss der musikalischen Situationen, in denen die Harmonie ent- oder besteht.]

Harmonien sind keine festen Körper.

Zu finden bei Ernst Toch. Die gestaltenden Kräfte der Musik (1948). Hofheim a. T. 2005

Was also in dem Gebiet des Schematismus liegt, ist der arithmetischen Bestimmung unterworfen in der Natur und Kunst, die Architektur, als die Musik der Plastik, folgt also notwendig arithmetischen Verhältnissen, da sie aber die Musik im Raume, gleichsam die erstarrte Musik ist, so sind diese Verhältnisse zugleich geometrische Verhältnisse.

Wenn die Architektur überhaupt die erstarrte Musik ist, ein Gedanke, der selbst den Dichtungen der Griechen nicht fremd war, wie schon aus dem bekannten Mythus von der Leier des Amphion, der durch die Töne derselben die Steine bewegt habe sich zusammenzufügen und die Mauern der Stadt Thebe zu bilden - wenn also überhaupt die Architektur eine konkrete Musik ist, und auch die Alten sie so betrachteten, so ist es ganz insbesondere die am meisten rhythmische, die dorische oder altgriechische Architektur (denn dorisch hieß überhaupt alles Altgriechische), und auch die Alten mussten sie vorzüglich unter diesem Gesichtspunkt betrachten.

Die Architektur schließt sich auch dadurch ganz an die Musik an, so dass ein schönes Gebäude in der Tat nichts anderes als eine mit dem Auge empfundene Musik, ein nicht in der Zeit-, sondern in der Raumfolge aufgefasstes (simultanes) Konzert von Harmonien und harmonischen Verbindungen ist.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854), deutscher Philosoph des Idealismus

LOUNGING SONIA          
Dreamland                              
Label: SchallFeld Records
Labelcode: 52214


Willkommen im Dreamland. Hier gibt es alles, was man sich von guter Popmusik erträumt: zeitlos schöne Melodien, die sich angenehm im Ohr festsetzen, eine sympathische Stimme, der man gern zuhört, und abwechslungsreiche Arrangements, die viel Liebe für Details verraten. Dreamland ist die erste Veröffentlichung der norddeutschen Band Lounging Sonia. Wer beim Wort „Lounge“ an belanglose Hintergrundmusik denkt, liegt allerdings völlig falsch. Die zehn Songs des Debüts sind Popsongs im besten Sinne – eingängig, aber nie platt und vorhersehbar.

Es ist Musik, die dem Zuhörer die Wahl lässt: Er kann sich von ihr in das titelgebende Traumland versetzen lassen und sie einfach genießen, doch ebenso gut kann er beim genaueren Hinhören viele lohnenswerte Entdeckungen machen. Kaum meint man, ein Stück durchschaut zu haben, da wartet am nächsten Taktstrich schon eine überraschende harmonische Wendung oder ein melodischer Schlenker, der die Tür in einen neuen Raum öffnet.

In einer Welt, in der grelle Effekte und schnelle Klicks zählen, wirkt diese Musik angenehm unzeitgemäß. Hier werden nicht lieblos und auf die Schnelle am kompositorischen Fließband bekannte Muster reproduziert. Wer möchte, kann große Vorbilder aus der mehr oder weniger fernen Vergangenheit heraushören – hier ein Intro, das in einen Ben-Folds-Song zu führen scheint, dort ein Keyboard, das selige Supertramp-Tage heraufbeschwört, und immer wieder Backgroundchöre, die die Beatles in Erinnerung rufen. Ole Steinhoff (Gesang und Keyboards), der Mann hinter Lounging Sonia, hat mit solchen Assoziationen kein Problem – im Gegenteil. Die Genannten haben ihn beeinflusst, waren gemeinsam mit vielen weiteren wichtige Teile seiner musikalischen Sozialisation. Kein Wunder, dass er sie nun, wenn auch unbewusst, in seinen Songs verarbeitet und in etwas Eigenes, Neues verwandelt.

Seine ersten Songs hat Ole Steinhoff geschrieben, als er 19 war. Das ist über 20 Jahre her, und ähnlich weit reicht die Geschichte von Lounging Sonia zurück. Mit seinen heutigen Mitmusikern Jan Kirchner (Bass) und René Robrahn (Schlagzeug) spielte Steinhoff schon damals zusammen, lange bevor an Dreamland auch nur zu denken war. Man verlor sich aus den Augen, doch als man sich Jahre später wiedertraf, war der alte Zauber gleich wieder da. „Es gibt nichts Schöneres, als mit den beiden Musik zu machen“, schwärmt Steinhoff. „Und das Allerschönste ist, dazu singen zu dürfen.“
Bald nach dem Neuanfang stand die Idee im Raum, eine CD aufzunehmen, mit der Lounging Sonia nun endlich an die Öffentlichkeit tritt. Ihre Musik hatte reichlich Zeit zu reifen und entfaltet nun umso eindrucksvoller ihre Wirkung. „Ich möchte den Zuhörern ein positives Gefühl mitgeben“, wünscht sich Steinhoff. „Mit ihrem schwebenden Charakter soll meine Musik Räume öffnen.“ Dazu passend, bleiben die Texte im Vagen, drängen sich nicht mit vermeintlichen Eindeutigkeiten in den Vordergrund und lassen dem Hörer so Platz für eigene Assoziationen und Empfindungen.

Und was hat es mit der loungenden Sonia aus dem Bandnamen auf sich? Die entspannt sich tatsächlich, aber nicht in einem Club von heute, sondern auf dem über 100 Jahre alten Gemälde „Retrato de Sonia de Klamery“ des katalanischen Malers Hermenegildo Anglada Camarasa. Über Ole Steinhoffs Schreibtisch hängt eine Reproduktion des Bildes, das ihn so inspirierte, dass Sonia zunächst in einen Backgroundchor des Titelstücks „Dreamland“ gelangte und von dort schließlich sogar zur Namenspatin der Band befördert wurde. Da liegt sie nun, verführerisch,  im Hintergrund ein bunter Paradiesvogel, regt die Fantasie an und wacht darüber, dass die Band, die ihren Namen trägt, die Zuhörer verzaubert. Es darf geträumt werden.

Anspieltipps:
 
Track 1: Dreamland
Unter einer Melodie mit Ohrwurm-Potenzial baut sich ein einnehmendes Stück auf, das in seiner Struktur deutlich über das übliche Strophe-Refrain-Schema hinausgeht und weit mehr bietet, als man in gut dreieinhalb Minuten erwarten würde. Ein Dreiergespräch zwischen Leadstimme, Backgroundchor und Solo-Gitarre mündet in einen ruhigeren Part, der die abschließende Steigerung umso eindrucksvoller macht.
 
Track 3: Change Me
Eine nachdenkliche Ballade mit melancholischen Untertönen. Zwischen akustischer Gitarre, Synthie-Streichern und stoischen Basstönen macht die Melodie so manchen überraschenden Umweg und schafft Platz für große Gefühle.
 
Track 6: Staying Out Late
Nach einem Intro, das freundschaftlich zu The Police hinübernickt, entwickelt sich eine energiegeladene Nummer, die von Bass und Schlagzeug mit einem elastischen Rock-Groove unterlegt wird. Harmonisch immer in Bewegung, bringt das Stück Ole Steinhoffs Falsettgesang besonders gut zur Geltung.


Guido Diesing, Musikjournalist u. Redakteur

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