Aus: Georg Picht (1913-1982). Mut zur Utopie (1969)

Wie konstituiert sich Vernunft in einer Gesellschaft, die [...] in den Prozess einer Revolution hineingerissen wird, die alle überlieferten Fundamente vernunftgemäßen Denkens und Handelns unterspült?
Die überlieferten Fundamente jeder menschlichen Ordnung, die Substrukturen aller höheren Kultur, sind aus den großen Weltreligionen hervorgewachsen. Die Religionen haben jenen tief verborgenen Untergrund von Recht, von Sitte, von Gewohnheiten und menschlichen Grundvorstellungen ausgebildet, in dem die Humanität verwurzelt ist und aus dem sich in einer späten Phase der Menschheitsgeschichte die aufgeklärte Vernunft entfaltet hat. Man bezeichnet dieses ganze Feld mit einem unzulänglichen Begriff als „Moral“. Die Religionen sind der geschichtliche Ursprungsbereich der Moral; und Moral ihrerseits ist die Basis der Vernunft, sofern Vernunft als das Vermögen gelten soll, verantwortlich zu denken und zu handeln. [...]
Die Geistesgeschichte lehrt, dass die Vernunft ihre höchsten Tugenden – ihre Klarheit, ihre Besonnenheit, ihre Nüchternheit und ihre Unbestechlichkeit – aufs Spiel setzt, wenn sie in den Bereich eindringen will, aus dem sie selbst hervorgegangen ist. [...]
Die Analyse der heutigen Weltsituation hat gezeigt, dass nichts die gesamte Menschheit so sehr bedroht wie das Festhalten an archaischen Denkweisen und Vorurteilen, an Ordnungsmodellen und Traditionen, die uns den Blick für die Notwendigkeiten einer zukünftigen Geschichte versperren. [...]

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